Laudatio zur Atelierausstellung vom 9. - 16. Juni 2018
Steinskulpturen und Bronzeplastiken
Bildhauerei – eine jahrtausendalte Tradition
Werfen wir ein Blick zurück auf die europäische Kultur- und Kunstgeschichte. Bereits in prähistorischer Zeit, während der griechischen und der römischen Antike, ebenso im Mittelalter, zu Zeiten der Renaissance, des Barocks und des Klassizismus war die Bildhauerei mindestens so bedeutend wie die Malerei. Aus frühen Kulturepochen sind rituelle Figurinen wie die Venus von Willendorf, antike Götterstatuen, christliche Heiligenfiguren wie auch Standbilder von Porträtbüsten von bedeutenden Persönlichkeiten erhalten geblieben.
Erst im 19. Jahrhundert liefen die zweidimensionalen Bilder in Form von reproduzierbaren Lithografien und Fotografien der dreidimensionalen Kunst den Rang ab. Im 20. Jahrhundert eroberten bewegte Bilder Kinosäle und private Wohnstuben. Skulptur und Plastik sind im Gegensatz zum Bild noch heute kein Massenmedium. Sie waren es früher viel eher noch als öffentliche Denkmäler oder als Kultgegenstände. Auch wenn inzwischen der 3D-Drucker erfunden worden ist, hält sich die dreidimensionale Vervielfältigung allein schon wegen der Kosten und des Aufwands in Grenzen. Zwar ist die Bronzeplastik nicht zwingend ein Unikat, da im Grunde der Gipsabguss das Original darstellt, das abgeformt und in Bronze gegossen wird, doch ist die Auflage in der Regel auf wenige Abgüsse beschränkt.
Berührung – eine Form der Wahrnehmung
Im 21. Jahrhundert – im Zeitalter des Internets, der Digitalisierung und der virtuellen Welten – besitzt das jahrtausendalte bildhauerische Handwerk noch immer eine grosse Faszination, weil es einerseits selten geworden ist und andererseits uns eine Form der Wahrnehmung bietet, die für uns nicht mehr alltäglich ist. Heutzutage sitzen viele von uns tagsüber vor einem Bildschirm, abends nach der Arbeit oft auch noch. Die materielle Präsenz im realen Raum, die Empfindung von physischem Gewicht, Schwerkraft und Erdanziehung wie auch die Sinnlichkeit einer Oberfläche, die nicht die Glätte eines Touchscreens hat, sind für uns keineswegs mehr allgegenwärtige Erfahrungen. Im 21. Jahrhundert braucht es Bildhauerei nicht mehr, um Figuren darzustellen und Geschichten zu erzählen, sondern elementare Fragen zu stellen und gegebenenfalls auch zu beantworten.
Die Werke von Marco Ferronato wirken sowohl optisch wie auch haptisch. Wir können sie ansehen und berühren. Wie erkennen ihren Aufbau, ihre Struktur, auch vermitteln sie uns ein Bild bzw. Bild gewordene Gedanken. In gleichen Moment spricht das Material des Steins bzw. der Bronze mit seiner Oberflächenbeschaffenheit, seiner Temperatur und den künstlerischen Bearbeitungsspuren zu uns. Nicht nur die Betrachtung mit den Augen, sondern auch die Berührung mit den Händen löst in uns Etwas aus; Etwas, das sich oft nicht in Worte fassen lässt, uns bewegt. Auf die äussere folgt die innere, gegenseitige Berührung.
Vernetzung – ein aktuelles künstlerisches Thema
Jeder gute Künstler verfolgt ein eignes Thema, mit dem er sich während eines längeren Zeitraums beschäftigt. Marco Ferronato knüpft an die bildhauerische Tradition, bleibt jedoch nicht in der Vergangenheit stehen. Er setzt sich intensiv mit einem der zentralen Themen des 21. Jahrhunderts, nämlich dem der Vernetzung, auseinander.
Wie die artverwandten Begriffe Verflechtung und Verknüpfung verweist Vernetzung auf textile Strukturen, ein Durchdringen von Strängen, die zusammen ein Ganzes, ein Netz oder ein Gewebe ergeben. Textilien sind weiche, Stein und Bronze harte Materialien. Marco Ferronato gelingt es, die Geschmeidigkeit von Stoffen in Stein und Bronze zu übersetzen und dergestalt diesen beiden Materialien Lebendigkeit einzuhauchen. Das Motiv der Vernetzung taucht in vielen seiner Arbeiten auf. Er veranschaulicht sein Kernanliegen in Stein und Bronze, indem er textile Strukturen aus dem Stein heraushaut, ihn durchbricht, und in Bronze Stoffe abformt, die sich mummenschanzartig in rudimentäre Gestalten, sogenannte «Lumpengesichter» verwandeln.
Sinnbildlichkeit
Vernetzung ist für Marco Ferronato mehr als nur eine interessante Struktur, sondern Ausgangspunkt für philosophische Überlegungen. Bei seinen künstlerischen Geflechten spricht er von «konstruktivem Verbiegen» und sieht darin einen bildhaften Ausdruck für soziale Kompetenz. Als Mensch interessiert er sich für das Verbindende, das Einzelheiten zu einem Ganzen zusammenwachsen lässt. Schon Aristoteles sagte: «Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile." Einige Werke von Marco Ferronato versinnbildlichen dieses Grundgesetz, andere zeigen auf, dass Flechtwerke, sobald sie gerahmt sind, zu Gittern mutieren, die eine räumliche Trennung bewirken.
Besonders eindrücklich erscheint mir die an eine Schale erinnernde Marmorskulptur, welche Mutter, Vater und Kind als harmonische Einheit verkörpert. Mit dieser zwischen Abstraktion und Figuration changierenden, trotz ihrer Kleinheit (20 x 20 x 10 cm) monumental wirkenden Arbeit ist dem Künstler ein grosser Wurf gelungen. Sie hat für mich die Kraft eines allgemeinverständlichen, immerwährenden Symbols und wäre in grosser Ausführung für den öffentlichen Raum prädestiniert.
©2018 Lucia Angela Cavegn, lic. phil. Kunsthistorikerin, Winterthur (www.kunstweise.ch)